Sonntag, 8. Januar 2023

Die Schönheit der Ikone

 Juin 1992



Die Ikone ist das Schönste auf dieser Welt, nach dem vergötterten Menschen. Doch sie ist nicht von dieser Welt. Sie ist sowohl irdisch in seinen Ausdrucksmitteln als auch himmlisch in ihrem Inhalt. Die Schönheit, die sie widerspiegelt, steht über der Schönheit dieser Welt – letztere mehrdeutig, aber real. Es ist die Schönheit, die «das Auge nicht gesehen und das Ohr nicht gehört hat», also das Bild der geistigen Wirklichkeit, das sich durch die Kunst der Ikone erschließt.

Die Ikone ist nach den ästhetischen Kriterien dieser Welt nicht unbedingt schön. Oft sind sie auf dieser Seite voller Unvollkommenheiten und künstlerische Meisterwerke sind eher selten. Diese künstlerische Vollendung sucht der Ikononenmaler aber nicht unbedingt in einer irdischen Schönheit, die durch ihre untergangsbedingte Mehrdeutigkeit sogar in die Irre zu führen droht. Es ist überirdische Schönheit, die der Ikone Anmut und Harmonie verleiht, und diese Schönheit ist eng mit der Wahrheit und Güte verbunden, mit der sie eins sind. Irdische Schönheit hat diese Verbindung mit dem Wahren und Guten zerbrochen, verrenkt und alle profane Kunst bezeugt dies.

Schönheit zieht Wahrheit an, ebenso wie Hässlichkeit sie abstößt. Die Schönheit der Ikone, die ganz und gar geistig ist, hat daher die Mission, die Wahrheit der anderen Welt zu bezeugen, eine Wahrheit, die letztlich nur die göttliche Schönheit selbst ist, die sich in der Welt identifiziert, die sie rettet und verklärt.

Im irdischen Paradies war alles schön und gut (griechisch „kalos“). Die Sünde hat Hässlichkeit, Böses und Falschheit eingeführt, und in der Kirche, dem himmlischen Paradies, wird dieses „Kalos“ wiederhergestellt. Die Ikone ist ihre visuelle Form schlechthin, wie das heilige Lied für das Ohr.

Die Ikone ist eine Erscheinung göttlicher Schönheit und sie wird die Welt retten. Sie scheint in einer zweckmäßigen und praktischen Welt nutzlos zu sein, und doch ist es genau das, was öffnet, einen Bruch in dieser geschlossenen und erstickenden Welt macht, der am häufigsten zur Verzweiflung, zum Selbstmord führt. Sie rettet, weil sie wahr ist. Sie lenkt den Menschen auf das Einzige, nicht Nützliche, sondern Notwendige, und darin besteht ihre Daseinsberechtigung.

Die Schönheit der Ikone ist ganz innerlich – wie die der Königstochter, von der der Psalmist spricht – und besteht weniger in ihrer Ausdrucksform als in ihrem geheimnisvollen Inhalt. Eine verborgene und keusche Schönheit, die sich denen offenbart, die ihre Sinne reinigen.

Diese Schönheit schließt jede Sinnlichkeit und Sentimentalität aus und wirkt sogar streng (wie übrigens die ganze Orthodoxie). Es fehlt ihr jedoch nicht an Zärtlichkeit, Gefühle, Innerlichkeit. Sie ist das Gegenteil der fleischlichen Schönheit, wie die keusche Frau das Gegenteil der Dirne.

Wenn der moderne Mensch so von der Ikone angezogen wird, dann nicht so sehr wegen ihres theologischen Inhalts, den er meistens verkennt, sondern wegen ihrer spirituellen Schönheit, die sich durch künstlerische Schönheit offenbart. Auch wenn letztere nicht perfekt ist, ist es die himmlische Schönheit, die ihr Anmut verleiht, wie eine alte Frau, deren Adel der Seele selbst Falten anmutig macht.

Die spirituelle Schönheit der Ikone muss immer perfekt sein, denn jede Unvollkommenheit wäre ein Zeichen von Irrtum, Ketzerei. Künstlerische und ästhetische Schönheit hingegen ist wie alles, was der Mensch tut, immer perfektionierbar, und gerade diese Unvollkommenheit bringt die vollkommene göttliche Schönheit hervor.


Priestermönch Kassian

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